Patchett, Ann by Bel Canto

Patchett, Ann by Bel Canto

Author:Bel Canto
Format: epub


Als sich diejenigen, die wirklich dabeigewesen waren, Jahre darauf an diese Zeit der Gefangenschaft erinnerten, sahen sie sie als in zwei klar getrennte Abschnitte unterteilt: vor dem Karton und nach dem Karton.

Vor dem Karton hatten die Terroristen das Haus des Vizepräsidenten in ihrer Gewalt. Auch wenn die Geiseln nicht unmittelbar bedroht wurden, grübelten sie doch über die Unausweichlichkeit ihres Todes nach. Selbst wenn sie großes Glück haben sollten und im Schlaf erschossen würden, so stand ihnen jetzt doch klar vor Augen, was das Schicksal für sie bereithielt, sei es vor ihrer Freilassung oder danach. Sie würden alle sterben. Das hatten sie natürlich immer gewußt, aber jetzt kam der Tod nachts zu ihnen und setzte sich auf ihre Brust, starrte ihnen kalt und gierig in die Augen. Das Leben auf dieser Welt war gefährlich, die Vorstellung der eigenen Sicherheit ein Märchen, das man den Kindern vor dem Einschlafen erzählte. Man brauchte bloß um die falsche Ecke zu biegen, und alles konnte vorbei sein. Sie dachten an den sinnlosen Tod des ersten Pianisten. Sie vermißten ihn, und doch: Wie leicht, wie befriedigend hatte man ihn ersetzen können. Sie vermißten ihre Töchter und ihre Frauen. Sie waren hier in diesem Haus noch am Leben, aber was half ihnen das? Der Tod sog ihnen bereits die Luft aus den Lungen. Er ließ sie schwach und lustlos werden. Mächtige Firmenchefs sanken matt auf die Sessel am Fenster und starrten ins Leere, Diplomaten blätterten Zeitschriften durch, ohne die Bilder wahrzunehmen. Manchmal hatten sie kaum noch die Kraft zum Umblättern.

Doch nachdem Messner die Kiste ins Haus gebracht hatte, wurde alles anders. Die Terroristen wachten weiterhin vor den Türen und liefen bewaffnet herum, aber jetzt hatte Roxane Coss das Sagen. Sie fing morgens um sechs Uhr an, weil sie aufwachte, wenn das Tageslicht durch ihr Fenster fiel, und wenn sie aufwachte, wollte sie arbeiten. Sie nahm ein Bad, aß zwei Scheiben Toast und trank eine Tasse Tee, die Carmen ihr zubereitete und auf einem gelben Holztablett hinaufbrachte, das der Vizepräsident dafür ausgewählt hatte. Jetzt, da Roxane Coss wußte, daß Carmen ein Mädchen war, ließ sie sie auf ihrem Bett sitzen und aus ihrer Tasse trinken. Sie flocht Carmen gern das Haar, das so schwarz war und glänzte wie Öl. Manchmal war das Gewicht von Carmens Haar zwischen ihren Fingern das einzige, was einen Sinn zu haben schien. Es tröstete sie, so zu tun, als wäre sie dabehalten worden, um dieser jungen Frau das Haar zu flechten. Sie war Mozarts Susanna. Carmen war die Gräfin Rosina. Das Haar fügte sich ordentlich zu schweren schwarzen Bändern zusammen. Sie konnten sich nicht unterhalten. Wenn Roxane fertig war, stellte Carmen sich hinter sie, bürstete Roxane das Haar, bis es glänzte, und flocht es zu einem ebensolchen Zopf. So waren sie für die kurze Zeit, die sie am Morgen zusammen waren, Schwestern, Freundinnen, einander ebenbürtig. Sie waren glücklich zusammen, wenn sie allein waren. Keinen Augenblick lang dachten sie an Beatriz, die mit den Jungs Würfel gegen die Tür der Speisekammer warf.

Um sieben Uhr



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